Kinder leben heute in einer Zeit visueller Überflutung, die von ständigem Konsum begleitet wird – und das oft eingebunden in einen Stundenplan, der so dicht besetzt ist, das ganz ursprüngliche und wesentliche Erfahrungen und Empfindungen kaum noch auf der Breite des Striches möglich werden, der die Woche in Tage teilt. Dabei bedarf die Ausformung der Sinne eines Kindes einer hohen Bandbreite von Erfahrungen und deren Verarbeitung.
Visuelle Medien: kindliche Phantasie vorproduziert
In der Flutwelle vorproduzierter Bilder geht kindliche Phantasie unter – schwimmen zu lernen wird immer schwerer. Als bereits in den frühen 80er Jahren kritische Stimmen laut wurden, dass fortgesetzter Fernsehkonsum die Entwicklung von Kindern verschiedener Altersgruppen höchst nachteilig beeinflussen würde, ahnte noch niemand, wie sich die technische Entwicklung überschlagen würde. Und die dann einsetzende rapide Entwicklung digitaler Medien, die jedes Kinderzimmer erreichte, sorgte für weitere verzweifelte Aufschreie aus wissenschaftlichen Kreisen. Doch auch der Hochschulprofessor für Erziehungswissenschaft klagte über die Sprösslinge, die nur noch innerhalb eines Medienverbundsystems lebten, die Serien konsumierten, nach entsprechenden Spielfiguren verlangten und die Marmelade am Frühstückstisch mit entsprechender Gestik und verstellter Stimme einforderten. Computerspiele, Handys, iPod, iPad und Nachfolger mit entsprechenden Ausrüstungen ersetzen heute, was früher einmal Sand, ein Stock und eine leere Dose waren, aus denen etwas gebaut wurde, das der kindlichen Phantasie entsprach. Kinder in der Schule sitzen ratlos vor überdekorierten Schulbüchern und suchen einen Text, den sie lesen und das Ende antizipieren – Kraft eigener Phantasie entwickeln sollen – und versagen. Oder landen in einer der Schienen des medial Erfahrenen. Nervosität und Schlafstörungen, weitere Befindlichkeitsstörungen und vor allem Hyperaktivität machen sich breit und Ärzte retten Eltern durch entsprechende Diagnosen: Das attestierte x-y Syndrom macht das Ertrinken kindlicher Phantasie gesellschaftsfähig. Die parallel beschriebene Burn-Out-Tendenz der Erwachsenen weist eine deutliche Parallele zur Entwicklung der der Kinder auf – Gegenströmungen sind vorhanden, aber oftmals zu radikal, um Menschen zu erreichen: Der Ruf nach gänzlicher Ab- oder Umkehr entbehrt oft grundlegender Voraussetzungen und verlangt zu viel der Änderungen und des Verzichts: Verhaltensveränderungen brauchen eine Basis, Zeit, Wiederholungen und nicht zuletzt Erfolgserlebnisse.
Bilder einmal Ausblenden …
Verbote sind das reizvollste, was man Kindern bieten kann: Das “Du-siehst-jetzt-nicht-mehr-fern”, oder der weggeschlossene Computer erhöhen den Reiz nicht nur um ein Vielfaches, sondern schaden auch dem Ansehen des Kindes dort, wo es dann plötzlich nicht mehr mitreden und mithalten kann. Ein vorsichtiger Impuls, einmal einer anderen Freizeitbeschäftigung nachzugehen, kann – sensibel genug dargebracht – Wunder wirken. Vielleicht mit einem Hinweis auf die – frühere – eigene Faszination verbunden, kann der gute alte Kassettenrekorder und ein ebensolches Hörspiel Wunder wirken. Kein Bild, sondern nur Ton, sprechen nur den auditiven Sinn – das Gehör – des Sprösslings an, der ist zwar trainiert, allerdings nur in Zusammenhang mit Bildern. Isoliert wahrgenommen, wirkt er so, wie er früher wirkte – heute aber wohl umso intensiver: Das Gehörte regt an, die Bilder selbst zu produzieren. Charaktere nehmen Gestalt an, vor dem geistigen Auge, bekommen Gesichter. Landschaften formen sich, Räume bekommen ihr ganz eigenes Gepräge – die Phantasie beginnt zu fließen – und macht Lust auf mehr. Hörspiele sind ein erster Schritt, ein Interesse an Schriftsprache im weitesten Sinne zu begründen und über das gesprochene und gehörte Wort die Faszination menschlicher Sprache und ihrer Differenziertheit zu erfassen. Sie regen zum Gespräch an, zum Darüber-Erzählen, wie Weiter-Erzählen, zum Tag-Traum und lassen das Kind vielleicht sogar irgendwann zum Buch greifen – der ganz stillen Variante des Hörspiels.
Keine Bilder produzieren eigene Bilder
Und während der visuelle Sinn endlich einmal nicht tausend Schnitte und Vorproduziertes verarbeiten muss, greift das Kind vielleicht auch zum Stift und zeichnet – zögerlich noch, aber immer mehr – den Protagonisten der Handlung: Um seiner Phantasie Ausdruck zu geben, die eigenen, inneren Bilder sichtbar zu machen – kurz bevor sie unter der Flutwelle begraben werden. Das Drücken der Stopp-Taste fällt da nicht mehr schwer, ein Stift liegt in der Hand und das Papier ist fühlbar – über das Visualisieren, das Sichtbarmachen, wird der nächste Weg beschritten: Der Weg zum Begreifen, zum Fühlen, zum Gestalten. Der haptische Sinn – der des Fühlens – ist erreicht und beteiligt, einer der wesentlichsten unserer Sinne – und gleichzeitig einer, der heute am wenigsten angesprochen wird: Das, was Bilder uns zeigen, können wir nicht erfühlen. Nicht nur mit dem Griff zum Stift, sondern auch im tatsächlich nach- oder weiter gespielten Hörspiel wird dieser Sinn mit einbezogen. Kinder beginnen sich zu verkleiden, so auszustatten, wie ihre Phantasie den Protagonisten gemalt hat: Der Kochlöffel wird zum Zepter, der abgebrochene Stock zum Schwert und aus alten Brettern oder dem Teppich wird ein Floß, das das Kind über die Flutwelle trägt. So kann ein einfaches Hörspiel die Tür zur Welt ganz ursprünglicher sinnlicher Erfahrungen öffnen und Kinder dafür sensibilisieren, dass da noch ein Paralleluniversum menschlich-sinnlicher Erfahrungen existiert, dass keineswegs von der medialen Flutwelle bedroht ist. Die idealtypisch dargestellte Aneinanderreihung von sich anschließenden Entwicklungsschritten braucht jedoch Zeit und aufmerksame, zurückhaltende Begleitung. Entwicklungsschritte verlaufen nie gleich und weisen meist einen wellenförmigen Verlauf auf. Und sie brauchen den Dialog ebenso, wie das tatsächlich geteilte Interesse der Erwachsenen: Vielleicht machen auch Sie dann einmal den Fernseher aus, oder verlassen den Computer, wenn der Sprössling Ihnen den besonders spannenden Dialog des Hörspiels vorspielen möchte – sogar mitten in Lieblingssendung.